Grünau – dieser Name steht für ein tristes Plattenbaughetto im Leipziger Westen. Hier lebt die Unterschicht, vor der Soziologen und Sozialdemokraten jahrelang vergeblich gewarnt haben. Die Arbeitslosenquote ist so hoch wie einst die Wahlergebnisse der SED. Schwimmhallen und Jugendclubs sind geschlossen. Die Integration ist gescheitert, auf den Schulhöfen wird nur noch sächsisch gesprochen. Sprachkurse gibt es nicht. An ausgedienten Tischtennisplatten lungern Jugendliche herum, die sich ihre Hände an Feuertonnen wärmen, aus Ghettoblastern dröhnt aggressive Rap-Musik. Drogenpäckchen wechseln die Besitzer. Die Luft wird von Schreien und Sirenen zerrissen.
Den Jugendlichen in diesem Quartier fehlt jede Perspektive, denn eine Bewerbung mit dem Absender Leipzig-Grünau landet bei Firmen sofort im Papierkorb. Die größte Hoffnung der Grünauer ist es, dass der Sensenmann klingelt und sie endlich abholt. Oder ein Superstar zu werden – wie der, den sie hier alle gleich einem Gott verehren. Er ist einer wie sie, und er hat es trotzdem geschafft. Er ist die Verkörperung des Traums, dass man es vom Leipziger Lungerer zum geldsorgenfreien Superstar bringen kann: Kai Pflaume.
Statt Crack zu rauchen, moderiert der TV-Star Ehekrach und Tsunami, statt mit einer Flasche „Sternburg Export“ vor der Kaufhalle zu stehen, liegt er mit Schampus und Kaviar auf der „Queen Mary II“. Wie konnte es so weit kommen?
Geboren am 27. Mai 1967 in Halle, zieht Kai Pflaume bereits ein Jahr später mit seiner Familie nach Leipzig. Im rauen Klima der Vorstadt wächst er auf. Pioniernachmittag, Hausaufgaben, Fußballtraining, der DDR-Alltag ist eine harte Schule. Pflaume sehnt sich nach Freiheit und Abenteuer, ein Leben im Kapitalismus wird sein Wunschtraum. Als sich Ungarn im Zuge der Wende 1989 mit Österreich wiedervereinigt, gibt es für den smarten Jungen aus dem Slum kein Halten mehr. Als schwangere Oma verkleidet, reist er nach Budapest. Von dort gelangt er wie zehntausende anderer DDR-Bürger direkt in die BRD. Ein Mutter-Kind-Heim in der Finanzmetropole Frankfurt am Main nimmt ihn auf.
Rasch macht sich Pflaume als „Herzblatt“-Kandidat selbständig. Seine Lieblingspointe als Vorzeige-Ossi: „Wenn schon Kapitalismus, dann an der Quelle.“ Klar, dass die versierten Wessibräute lieber Kandidat vier wählen als so einen schrägen Vogel. Nebenbei verteilt Pflaume zwar noch Zigaretten in der Fußgängerzone, aber längst ahnt er: Wenn die nächste TV-Show nicht meine eigene ist, habe ich bald nichts mehr zu rauchen.
Nur folgerichtig, dass Kai Pflaume wenig später von der Straße weg als Moderator für die Sendung „Nur die Kohle zählt“ bei RTL engagiert wird. Es folgt eine Bilderbuchkarriere: Nach seinem Wechsel zu Sat.1 1996 übernimmt er die „Glücksspirale“ und 1998 die „Gewaltspirale“, der die Sendung „Rache ist süß!“ folgt. Dabei kommen ihm seine Kindheitserfahrungen im sozialen Brennpunkt zugute.
Die TV-Laufbahn des „Lieblings aller Schwiegermütter“, wie er sich selbst nennt, liest sich wie ein Spiegel seiner Biografie. Nach den beiden Brutalo-Shows heißt es im Jahr 2000 dann „Die Chance Deines Lebens“. Dabei handelt es sich um eine Show, in der Obdachlosenzeitungsverkäufer ihre Tageseinnahmen einsetzen, um die Rekordsumme von zehn Millionen Mark zu gewinnen. Die meisten von ihnen gehen desillusioniert mit leeren Taschen nach Hause – die Sendung wird ein Renner. Pflaume wird bei Sat.1 der Mann für die großen Events. Unter anderem moderiert er „Deutschlands wahre Helden“, „Stars 2001 – Die Aids Gala“, „Der Abend der Leprakranken“ und „Vergiss es – Die Alzheimer-Show“. In der „Desaster-Falle“ werden Katastrophenopfer mit versteckter Kamera bei ihren heiter-unbeholfenen Versuchen gefilmt, riesigen Schlammlawinen, meterhohen Flutwellen oder herabstürzenden Trümmern zu entkommen. Auch dieses Format bringt Rekordquoten. Die Geburtstagsshow zum 50-jährigen Bestehen der Jugendzeitschrift Praline bringt dann 90 Minuten lang Zuschauervideos zum Thema „Sex mit Pflanzen“. Pflaume ist für jeden Spaß zu haben, überall einsetzbar, ein Pudel für alle Schichten.
Der vorläufige Höhepunkt in seiner Karriere ist sein Engagement für die Supermarktkette Plus als führendes Werbegesicht auf Hundefutterpackungen. Höher kann man kaum noch steigen. Doch niemand weiß, was Pflaume als Nächstes plant.
In Leipzig-Grünau haben sich die Zustände seit Pflaumes Weggang noch verschlimmert. Öffentliche Verkehrsmittel haben ihren Linienverkehr in den gefährlichen Stadtbezirk eingestellt, und auch für die Feuerwehr ist es längst zu brenzlig, auszurücken, um die brennenden Autos im Krisengebiet zu löschen. Jeder hier träumt davon, es wie Kai Pflaume zu schaffen, aus dem Ghetto rauszukommen. Und doch wissen die meisten, dass es für sie ein Wunschtraum bleiben wird. Was Pflaume aber so sympathisch macht: Trotz des Erfolges ist er nicht abgehoben, hat nicht vergessen, wo seine Wurzeln liegen: „Ich weiß genau, wo ich herkomme. Meinen schnellen Aufstieg zur Spitze verdanke ich einzig und allein meiner Genialität. Und wenn ich an die Platte und die ganzen ehemaligen Familienmitglieder und Freunde denke, dann denke ich zugleich: Die willst du nie wieder sehen, diese elenden Versager.“
GREGOR MOTHES
taz vom 20.11.2006, S. 20, 180 Z. (Kommentar), GREGOR MOTHES
Mit freundlicher Genehmigung der TAZ